24. September 2012

"Respekt? Wovor Denn?" - Ja, wovor?

Ganz im Sinne eines guten und sehr interessanten Artikels, der kürzlich auf ZEIT Online erschienen ist, versuche ich mich einmal an meinem eigenen Verstand. Sapere aude! Denn wenn ein religionskritischer, sich selbst als aufklärerisch deklarierender Kommentar mehrheitlich auf ein (bedingungsloses) "Amen" stößt, entbehrt das nicht einer gewissen Ironie des Schicksals.

Drum habe ich mir die einzelnen Punkte von Michael Schmidt-Salomons Kritik an der "Ideologie des falschen Respekts", wie er sie nennt, einmal genauer angesehen und ein paar Gedanken notiert. (Alle folgenden Zitate stammen aus dem Artikel "Respekt? Wovor Denn?" von Michael Schmidt-Salomon, seine numerische Gliederung habe ich zur besseren Übersicht fett gesetzt und unterstrichen.)

"Die Ideologie des falschen Respekts ist, wie ich meine, gleich in mehrfacher Hinsicht schädlich:
Erstens verstärkt sie die religiöse Kritikphobie durch das Ausblenden des aversiven Reizes." 
Unter "aversivem Reiz" habe ich (als absolut dilettantischer Laie auf diesem Gebiet) bisher immer ein unangenehmes Ereignis verstanden, das zu einer Vermeidungsreaktion führt. Das Internet sagt mir: "Bei einem aversiven Reiz [...] im Sinne der Lernpsychologie handelt es sich um einen negativen Stimulus, bei dem eine Vermeidungsreaktion ausgelöst wird." (Quelle) Wird der aversive Reiz durch das Ausbleiben von Kritik (aufgrund von "falschem Respekt" oder wodurch auch immer) also gar nicht erst ausgelöst, kommt es auch zu keiner Vermeidungsreaktion. Wer keiner Kritik ausgesetzt ist, der muss sie nicht meiden oder gar fürchten - der potentielle aversive Reiz wird ausgeblendet. Wie aber kommt es dann zur Kritikphobie?

"Zweitens  ermutigt sie Fanatiker dazu, noch heftiger zu protestieren, um künftig jede Form von Religionskritik zu unterbinden."
Das kann ich nicht beurteilen. Es scheint aber logisch zu sein (vor allem im Bezug auf Fanatiker).

"Drittens stellt sie weltanschauliche Borniertheit unter "Denk-mal-Schutz", indem sie den Fundamentalisten das "Geschenk der Kritik" vorenthält."
Wenn ich mich recht an Kant erinnere, so gilt: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. [...] Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. [...]"

Unmündigkeit ist selbstverschuldet, wenn Entschluss und Mut fehlen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen ohne Hilfe anderer. "Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten." - laut Kant muss das aber sein, der Weg des Einzelnen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit führt nur über Selbstaufklärung und -Erkenntnis. Würde das "Geschenk der Kritik" bloß überreicht werden, bestünde der "Denk-mal-[selber]-Schutz" ersteinmal weiter (bis zum selbstverursachten Ausgang des Einzelnen aus seiner Unmündigkeit): "Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen."  

(Zitate aus: Immanuel Kant, "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?", Berlinische Monatsschrift, Dezemberheft 1784)

"Viertens ist sie paradoxerweise besonders respektlos gegenüber den Gläubigen, weil sie diese wie kleine Kinder behandelt, denen man bestimmte Dinge nicht zumuten darf."
 Das stimmt.

"Fünftens führt sie zu einer Überbetonung der Interessen jener Personenkreise, die in ihrem Denken und Handeln noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen sind."
Naja. Würde eine gesteigerte Aufmerksamkeit in Form von Kritik nicht das Gleiche bewirken? (Wenn sie auch vielleicht nach und nach zu einer Widerlegung dieser Interessen führt.)

"Sechstens verführt sie Politiker dazu, das Täter-Opfer-Prinzip umzudrehen, indem sie die Schuld für die Störung des öffentlichen Friedens den betroffenen Künstlern zuweisen – statt den Fanatikern, die nicht angemessen auf Kritik reagieren können."
Wenn ich mir die Situation rund um die Mohammed-Karikaturen in Frankreich ansehe, scheint es so, als habe die dortige Politik Angst vor Fanatikern als potentiellen Tätern (sie lässt Botschaften und Schulen schließen) und sieht sich selbst in diesem Zusammenhang als potentielles Opfer. Die Karikaturisten, die man aufforderte, weitere "Provokationen" zu unterlassen, werden dabei als Anstifter oder (Mit-)Verantwortliche der möglichen Täterschaft von Fanatikern gesehen - die Fanatiker also sind in dieser Konstellation (potentielle) Täter (verantwortlich für eine Störung des öffentlichen Friedens - oder man traut sie ihnen zumindest zu) und Opfer (der Provokationen) zugleich. Die Künstler "lediglich" Mitverantwortliche oder etwas stärker ausgedrückt: Auslöser von Taten anderer.

Man könnte an dieser Stelle nun etwas plakativ fragen, ob Satire, die bewusst Gefühle bestimmter Personen verletzt, nicht von einer Unfähigkeit zeuge, angemessen auf diese Emotionen anderer zu reagieren? 
Das Ganze weist auf das Konfliktpotenzial zwischen künstlerischer und religiöser Freiheit hin. In Artikel 2, Absatz 1 des Grundgesetzes heißt es dazu: "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt." Der Religiöse darf also nicht das Recht auf Meinungs- und Entfaltungsfreiheit des Künstlers beschneiden, genauso wenig wie der Künstler dem Religiösen sein Recht auf Religionsfreiheit und die ungestörte Religionsausübung abspenstig machen darf. Das ist eine sehr schwierige Gradwanderung, der im Zweifelsfall mit Meinungsfreiheit und Toleranz begegnet werden sollte, wie ich finde. In diesem Zusammenhang vielleicht empfehlenswert: "Religion, Kunst und Provokation", ein Dossier der ARD.

Generell stimme ich Schmidt-Salomon aber zu, dass Künstler nicht zu Tätern stilisiert werden dürfen. Die Meinungsäußerung anderer Personen sollte nie zur Störung des öffentlichen Friedens führen, sondern höchstens zu Protest im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit.

"Siebtens hat die Ideologie des falschen Respekts eine Aushöhlung der Meinungs-, Presse-, Kunst- und Forschungsfreiheit zur Folge."
Auch diese Aussage dreht sich um den Eiertanz zwischen Meinungsfreiheit und Recht auf persönliche Ehre (GG, Art. 5, Abs. 2) - dem in der Regel über Respekt Wirkung verliehen wird. "Falscher Respekt" (egal in welche Richtung), der dazu führt, dass man die eigene Meinung und daraus resultierende Handlungen (natürlich immer im Rahmen der Verfassung) zurückhält, höhlt das Recht auf die oben genannten Freiheiten insofern aus, als dass sie nicht mehr zur Anwedung kommen.

"Und achtens ist sie mit dem Verrat der Prinzipien der Streitkultur der Aufklärung verbunden, die ja gerade deshalb so produktiv ist, weil sie Debatten fördert, in denen tradierte Sichtweisen schamlos verletzt werden können."
Ich beuge mich einmal, auch auf die Gefahr hin, hinkende Vergleiche zu ziehen oder dass der/die LeserIn Falsches über mich denkt, so weit aus dem Fenster zu behaupten: auch falscher (oder zumindest überzogener!) Respekt vor Religionskritikern und Atheismus behindert auf eine Art und Weise die vollkommen offene Debatte. Bedeutet die Freiheit des Geistes, wie Aufklärer sie sich wünschen, nicht immer wieder alle Gedanken zu hinterfragen (ohne Leitung eines anderen, ohne vorgedachte Ideen Dritter)?

Würde man, wie Schmidt-Salomon es fordert, "Hardcore-Religiöse" mit Satire und Kritik überschütten, bedeutete das dann nicht indirekt mehr Respekt für die eigenen Ideen, die eigene Weltanschauung zu fordern? "Bei Licht betrachtet hätten religionsfreie Menschen also weit triftigere Gründe, sich in ihren weltanschaulichen Gefühlen verletzt zu sehen. Offenkundig jedoch sind ihre weltanschaulichen Empfindungen weit weniger verletzungsanfällig als religiöse Gefühle.", schreibt er zwar. Seine antireligiöse Einstellung aber stellt er deutlich über das Religiöse. Er möchte durch Desensibilisierung die Gläubigen "umerziehen" und seiner Idee mehr Raum verschaffen, indem er ihn religiösen Vorstellungen zuvor entzieht. Im Grunde fordert er Respekt für seine Sicht auf die Dinge ("Hüten wir uns also vor der Ideologie des falschen Respekts! Nicht auszudenken, wo wir heute stünden, wenn die Aufklärer der Vergangenheit größere Rücksicht auf religiöse Gefühle genommen hätten: Womöglich würden in Europa noch immer die Scheiterhaufen brennen…") und qualifiziert Respekt vor religiösen Gefühlen als "falsch" ab. Und nun kommen wir zum vielleicht am stärksten hinkenden Teil dieses Absatzes: bedeutet das nicht eine geradezu antiaufklärerische Bevormundung der Religiösen, wie er sie selbst in Punkt Vier bemängelt?


Und nun zum Schluss noch einmal Kant. Die Stelle rund um das von mir hervorgehobene Wörtchen spiegelt meine Meinung zum Thema recht gut wider. (Vielleicht ist wirklich frei in diesem Sinne nur, wer sich auch frei macht von dem Gedanken, Religion sei in jedem Fall Opium fürs Volk. Ohne dabei das Hinterfragen von Religion zu unterbrechen, versteht sich.)
"Wenn denn nun gefragt wird: leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im ganzen genommen, schon imstande wären oder darin auch nur gesetzt werden könnten, in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines andern sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel. Allein, daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten [...] In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung oder das Jahrhundert FRIEDERICHS.
Ein Fürst, der es seiner nicht unwürdig findet zu sagen, daß er es für Pflicht halte, in Religionsdingen den Menschen NICHTS vorzuschreiben, sondern ihnen darin volle Freiheit zu lassen, der also selbst den hochmütigen Namen der Toleranz von sich ablehnt, ist selbst aufgeklärt und verdient von der dankbaren Welt und Nachwelt als derjenige gepriesen zu werden, der zuerst das menschliche Geschlecht der Unmündigkeit, wenigsten von seiten der Regierung, entschlug und jedem frei ließ, sich  in allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner eigenen Vernunft zu bedienen. [...]" 
(Immanuel Kant, "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?", Berlinische Monatsschrift, Dezemberheft 1784)


Kritik, Gegenmeinungen - alles jederzeit sehr willkommen!

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